Heute übernachten wir nur wenige Kilometer entfernt von der russischen Grenze. Der Weg hierher führte uns das letzte Stück über eine ruhige Nebenstraße, die sich in einer Unzahl von Kurven durch einen ständigen Wechsel von teilweise schon abgeernteten Feldern, dichten Wäldern, kahlen mit Findlingen übersäten Hügeln schlängelt, dabei mal um diese herum, mal darüber hinweg, zwischen durch immer wieder kleine aber ausgedehnte Siedlungen. Die Häuser waren von der Straße aus nicht zu sehen und verrieten sich nur durch die am Straßenrand stehenden Briefkästen. Auffällig war auch, dass an mehreren Bushaltestellen große überdachte Fahrradständer aufgestellt waren. Als wir kurz hinter Hamina auf diese Straße einbogen, die auch Teil des Königsweges ist, stand am Straßenrand ein großes Schild mit der Aufschrift ,,Museumsstraße``. Ein kurzes Stück später konnten wir an einem Rastplatz auf einer großen Informationstafel die Begründung für diese Bezeichnung lesen. Diese Straße ist schon seit dem frühen Mittelalter Teil des Weges von Turku nach Wyborg gewesen. Später verlief hier der Postweg. Am Straßenrand stand alle Kilometer ein Granitstein, mit den Entfernungsangaben nach Virojoki und Hamina.
Ihrem Aussehen nach zu urteilen, stammen sie aber nicht aus der Zeit der Postkutschen, sondern sind erst vor wenigen Jahren aufgestellt worden. Andere Hinweise auf diese Zeit sind uns auf dieser auch als Küstenweg bezeichneten Straße nicht aufgefallen, noch haben wir einen Hinweis auf den ehemaligen Postbauernhof in Mäntlahti gefunden. Etwa auf dem halben Weg zwischen Tallimäki und Virojoki veranlasste uns ein sich bewegendes Etwas auf der sehr kurvenreichen Straße zu einer Vollbremsung. Eine etwa einen halben Meter lange Schlange fühlte sich bei ihrem Sonnenbad auf der ruhigen Straße durch unser Erscheinen gestört und versuchte nun auf die andere Seite zu gelangen, kam dabei aber nicht so richtig voran. Gerade in diesem Moment kam auch noch eines der wenigen Autos, die uns auf dieser Strecke begegnet sind. Nach dem es ebenfalls angehalten hatte, genügte ein rascher Griff, um das Tier mit Schwung in den Straßengraben auf der anderen Seite zu befördern. Diese abrupte Unterbrechung der Mittagsruhe wurde mit einem unüberhörbar lautem Fauchen beantwortet. Nach dieser unerwarteten Unterbrechung setzten wir unsere Fahrt auf der sehr schönen aber auch ungewöhnlich kurvenreichen Küstenstraße fort. Nur in einem Punkt sind wir enttäuscht worden. Auf den gesamten 35km war das Meer kein einziges Mal zu sehen gewesen. Der Name Küstenweg ist in dieser Hinsicht unzutreffend.Am Morgen des heutigen Tages sind wir mit etwas Verspätung gestartet, da wir erst kurz nach acht von der Morgensonne geweckt wurden. Nach einem gemütliche Frühstück auf der Terrasse unserer Hütte und einer kurzen Rundfahrt über den sehr schönen aber in der Nachsaison fast leeren Campingplatz führte uns unser Weg zuerst in die Altstadt von Kotka, der wir einen Besuch abstatten wollten. Dank eines sehr detaillierten Stadtplanes, den wir am Zeltplatzeingang aus einem Kartomaten, so lautete die Aufschrift auf dem, an einen Getränkeautomaten erinnernden grauen Kasten, auf Knopfdruck gratis erhalten hatten, fiel uns die Orientierung nicht schwer, zumal auch die extra geführten Radwege wie schmale Straßen eingezeichnet sind. Später, bei der Suche des günstigsten Weges Richtung Hamina durch die Wohnsiedlungen von Karhula, sollte uns diese Karte noch einmal gute Dienste leisten.
Die Insel Kotkansaari erreichten wir über eine große Brücke, die hoch über den einen Mündungsarm des Flusses Kymijoki führt. Von hier oben kann man die Silhouette der Stadt ebenso wie den alles überragenden Leuchtturm überblicken, der heute nur noch als Aussichtsturm genutzt wird. Das Stadtbild von Kotka wird durch viele moderne Zweckbauten und schlichte Wohnhäuser geprägt und animiert nicht unbedingt zu einem längeren Aufenthalt. Noch bevor wir das Stadtzentrum erreicht hatten, fiel uns in einer kleinen Parkanlage zwischen ein- und zweigeschossigen Wohnhäusern ein Denkmal auf, das von weitem an eine Büste von Lenin erinnerte. Nachdem wir dichter herangefahren waren konnten wir auch die Inschrift lesen. ,,LENIN`` stand in großen Lettern auf dem Sockel. Ein späteres Nachlesen in verschiedenen Büchern ließ uns keine direkte Beziehung der Stadt Kotka zu Lenin finden. Allerdings wird Lenin in Finnland auch heute noch sehr geachtet. Dies ist nicht nur auf seinen mehrmaligen Aufenthalt in Finnland in den Jahren nach 1907 zurückzuführen, sondern vorallem auf seinen Anteil an der Unabhängig Finnlands. Nach dem Sturz des zaristischen Systems in Russland war er der erste, der den jungen Staat Finnland diplomatisch anerkannte. So wundert es nicht, dass Lenin in vielen Orten gewürdigt wird. Nur in der deutschsprachigen Werbebroschüre der Touristinformation von Kotka wird weder der kleine Park mit dem Namen Mutalahdenpuisto noch das Lenindenkmal erwähnt.Nachdem wir unsere Getränkevorräte in einem Supermarkt wieder aufgefüllt hatten, drehten wir noch eine kleine Runde durch das Zentrum. Unser Weg führte uns an der vor etwas über 100 Jahren im neugotischen Stil erbauten lutherische Kirche vorbei bis zum Sibelius-Park. Besonders aufgefallen sind uns eine ganze Anzahl von Skulpturen, deren Aussage sich nicht immer dem Betrachter erschloss, die aber dennoch recht interessant aussahen.
Obwohl es noch einiges mehr in Kotka gibt, das anzusehen sich gelohnt hätte, drehten wir nun der Stadt den Rücken, und suchten unseren Weg Richtung Hamina. Auf dem Weg zur 170 wechselten sich ausgedehnte Gewerbeflächen und Wohngebiete mehrfach ab. Mit 55000 Einwohner gehört Kotka zu den größeren Städten in Finnland. Dabei fuhren wir zum Teil auf kleinen Straßen durch Einfamilienhaussiedlungen. An den Wegweisern merkt man langsam, dass wir immer näher zur russischen Grenze kommen. Jetzt sind sie öfter auch in kyrillischen Buchstaben geschrieben. Dem gegenüber sieht man schon seit einiger Zeit keine Straßenschilder oder Ortsnamen in schwedischer Sprache. Im 18. und 19, Jahrhundert war Kotka Grenzfestung zum Schutz des russischen Zarenreiches gegen die Schweden.
Schließlich erreichten wir am Ortsausgang den gut ausgebauten Radweg, der neben der Fernverkehrsstraße verläuft. Jedesmal, wenn er die Straßenseite wechselte, wurde er in einem Tunnel unter der wenig befahrenen Straße hindurchgeführt. Manchmal sah es so aus als würde hier der Radweg ganz unvermittelt enden, aber dann führte eine kurze nicht zu steile Rampe nach unten. Da der gesamte Fernverkehr von der Autobahn aufgesogen wird, ist eigentlich nicht nachzuvollziehen, warum hier ein solcher Aufwand getrieben wurde. Mag sein, das die Autobahn erst später geplant und fertig wurde. Jetzt ist auf dem Radweg fast mehr Betrieb als auf der Straße.
Noch vor dem Ortseingang von Hamina kam uns ein Finne auf einem selbstgebauten, unseren Kettwieseln sehr ähnlichem Dreirad entgegen. Grund genug für einen kurzen Stopp und einen ausgiebigen Plausch, in dessen Mittelpunkt natürlich das selbstgebaute Rad mit seinen technischen Details stand. Unser Kettwieseltandem wurde
selbstverständlich auch ausgiebig begutachtet, war es ihm doch bisher nur aus dem Internet bekannt. Es hatte beim Selbstbau etwas als Vorbild gedient. Englisch bewährte sich hier zum wiederholten Male als gut funktionierende Kommunikationshilfe. Uns war in den letzten Tagen schon aufgefallen, das fast alle Finnen sich in Englisch verständigen können. Schließlich hatten wir unsere Erfahrungen zum Dreiradfahren ausgetauscht, ihm von unserer geplanten Tour erzählt und so fuhr jeder wieder weiter seines Weges.Kurze Zeit später erreichten wir den Sportboothafen von Hamina. Hier fiel uns ein Kunstwerk auf, das wir so eher als Hinterlassenschaft des sozialistischen Realismus am Beginn unserer Reise im Rostocker Überseehafen erwartet hätten. Eine Skulptur zeigt sehr detailgetreu zwei Hafenarbeiter beim Verladen großer Zylinder. Diese könnten Papierrollen
darstellen. Der Bezug zu Hamina ist nicht von der Hand zu weisen, gibt es doch auch in dieser Kleinstadt einen größeren Hafen und die Entfernung nach Lappeenranta, einem der Zentren der finnischen Papierindustrie ist nicht all zu groß. Beim Verlassen des Ortes fiel uns noch einmal die Vorliebe für Kunst im öffentlichen Raum auf. Im Zentrum eines Kreisverkehrs schwammen scheinbar vier riesige rostfarbene Fischskulpturen in die gleiche Richtung wie die sie umfahrenden Autos.Auf den letzten Kilometern vor unserem heutigen Ziel hatten wir vorallem beim Anblick der Häuser und Gehöfte den Eindruck schon in Russland zu sein. Vieles wirkte zumindest auf den ersten Blick so oder kam uns zumindest so vor. Zwischen Virojoki und Virolahti war die Nähe der EU-Außengrenze nicht mehr zu übersehen. In einem großer Verkaufsmarkt, vor dem mehrere Reisebusse Halt gemacht hatten, konnte man alles bekommen, was Bustouristen vor der Ausreise noch brauchen.
Auch unserem heutigen Campingplatz sah man den Einfluss der russischen Mentalität an, der sich unter anderem aus der Geschichte der letzten Jahrhunderte erklärt, in denen diese Ecke Finnlands Teil des russischen Zarenreiches war. Vieles wirkte, obwohl oder vielleicht auch gerade weil er privat bewirtschaftet wurde, irgendwie improvisiert. Als Duschenkabinen diente ein einfaches Gestell, aus Rohren zusammengeschweißt und mit transparenter gelber Wellplaste rundum beplankt. Jede der so abgeteilten vier Kabinen war groß genug, so dass man bequem zu zweit duschen konnte ohne dabei die an einfachen Haken aufgehängten Sachen nass zu spritzen. Es wirkte mit dem neben dem Betonfußboden herein wachsendem Gras, obwohl alles sauber war und ordentlich funktionierte, nicht unbedingt sehr einladend. Ganz im Gegensatz dazu stand die neu gebaute Sauna, deren Benutzung allerdings dem Platzeigentümer und einigen der wenigen Dauergästen vorbehalten war. Trotz alldem hat es uns hier ganz gut gefallen, auch weil der Platz direkt am Meer liegt.
Beim Zubereiten des Abendbrotes wurde uns eindrucksvoll vorgeführt, was es bedeuten kann in einer Holzhütte zu kochen, auch wenn diese mit einer Kochecke mit allem notwendigen Zubehör ausgestattet ist. Plötzlich brach ein ohrenbetäubender Lärm los. Der Rauchmelder an der Decke hatte angesprochen und tat dem gesamten Campingplatz kund, dass es bei uns heute Abend Bratkartoffeln gibt. Das Öffnen aller Fenster und Türen zeigten keinen Effekt. Inzwischen war auch schon der nette Platzwart herbeigeeilt. Auch ihm gelang es nicht das Geheule abzustellen. Erst das Entfernen der Batterie brachte die Sirene wieder zur Ruhe.
Peter Schaefer 2008-02-06