Einige Kilometer hinter Oristano, wir hatten schon den außerhalb der Stadt liegenden Hafen hinter uns gelassen, haben wir wahrscheinlich Flamingos gesehen. Am anderen Ufer des Stagno di Ena Arrubia standen im flachen Wasser zwei Kolonien größerer, weißer Vögel. Es schien uns, als habe deren Gefieder einen leichten Stich ins rötliche. Da der Abstand zur Straße aber fast einen Kilometer betrug, war es nicht möglich mehr zu erkennen, und es kann durchaus sein, dass wir uns haben täuschen lassen von dem Wunsch, die hier lebenden Flamingos auch zu sehen. Auf den ganzen Flachwasserseen, an denen wir in diesem Gebiet vorbeikamen, leben eine Unzahl verschiedener Wasservögel. Fast überall suchten Vertreter einer kleineren Art mit weißem Gefieder und langem spitzen Schnabel nach kleinen Fischen. In einer größeren Baumgruppe am Ufer hatten sie unendlich viele Nester gebaut.
In den Stagno di Ena Arrubia fließt auch der Kanal, an dessen Ostufer wir bis nach Arborea gelangten. Er dient der Entwässerung des gesamten Gebietes. Sein Wasserspiegel liegt deutlich höher als das umliegende Land. An jedem der Seitenkanäle, die alle in Ost-West-Richtung verlaufen heben große Pumpanlagen das Wasser in den Hauptkanal, damit es zum Meer abfließen kann. Gleichzeitig holen sich hier das Wasser um ihre Felder damit zu beregnen. Fast überall sahen wir die riesigen, sich langsam und unermüdlich drehenden Wasserwerfer. Auf der anderen Kanalseite tauchte gerade ein Traktor einen dicken Saugrüssel in das Kanalwasser um mit seinem gut dreißig Kubikmeter fassenden Kesselanhänger für Nachschub zu sorgen. Unter diesen Bedingungen ist es kein Wunder, wenn der Mais hier gut drei Meter hoch steht. Im Rahmen eines großangelegten Meliorationsprogrammes, das Anfang der Zwanziger Jahre begann, ließ die Mussolini-Diktatur das Kanalsystem anlegen. Mit der Trockenlegung des Salzsees Sassu im Jahr 1937 wurden hier weitere 3000 Hektar Boden für die Landwirtschaft, unter anderem für den Anbau von Reis, und zur Viehzucht neu erschlossen. Im Rahmen dieses Programms wurde auch die Stadt, die heute Arborea heißt, gegründet. Alle Straßen sind bis auf wenige Ausnahmen in einem Schachbrettmuster mit rechteckigen Raster angelegt und verlaufen kilometerweit schnurgerade.
Hier trafen wir auf die ersten Radwege in Sardinien, die diese Straßen begleiten. Das Kuriose an ihnen ist, dass sie gegenüber jedem, aber wirklich jedem Weg, der sie kreuzt untergeordnet sind. An jedem Feldweg, jeder Grundstücksausfahrt selbst wenn dieses noch unbebaut oder gänzlich ungenutzt ist, steht auf der einen Seite ein Stoppschild und auf der anderen ein erneutes Radwegeschild. Innerorts müsste man als vorschriftsmäßig fahrender Radfahrer alle 20 bis 50 Meter anhalten. Um den Schilderwald noch zu vervollständigen, hat man an der Straße an vielen Stellen für den Autofahrer noch zusätzlich Achtungsschilder mit der Unterschrift ,,Fahrradtouristen`` aufgestellt. Man könnte fast denken, der Bürgermeister von Arborea hält diese für besonders gefährlich oder gefährdet. Oder er betreibt eine Firma zur Herstellung und Aufstellung von Verkehrsschilder, wer weiß? Man sollte den Ort in Schilda umbenennen. Wie alle anderen, die heute hier mit dem Fahrrad unterwegs waren, egal ob Bäuerin mit Einkaufsbeuteln oder Männer unterschiedlichsten Alters auf ihren Rennrädern, ignorierten auch wir diesen Schilderwald, der uns noch an einigen anderen Straßen in der Umgebung begegnete.
Ansonsten ist Arborea eine schöne gepflegte Kleinstadt in der wir hätten länger bleiben sollen, auch wenn uns keinerlei Hinweis auf das in der Karte eingezeichnete ,,Museo Archeologico`` aufgefallen ist. Erst später haben wir gelesen, dass es sich im Rathaus befindet. In dem kleinen Park zwischen Kirche und Rathaus waren alle Bänke im Schatten der größeren Bäume besetzt. Mütter mit ihren Kindern tauschten lautstark ihre Erfahrungen aus, andere lasen oder taten gar nichts. In vielem wirkt Arborea italienischer als die meisten anderen Orte Sardiniens. Dies ist auch nicht verwunderlich, wurden doch bei ihrer Gründung vor allem Siedler aus der Poebene und aus Venetien für die Meliorationsarbeiten herangezogen.
Uns schien es für eine längere Mittagspause noch viel zu zeitig und so setzten wir unseren Weg durch die Schachbrettstraßen fort. Erst im Schatten eines lichten Pinienwaldes bei Torre Vechio, den wir besichtigen wollten, verweilten wir einen Moment. Die nicht sehr dicht stehenden Pinien boten aber nur einen sehr spärlichen Schatten. Der Waldboden war hart und eher staubig. Der als idylisch gepriesene Fleck lud nicht zu längerem verweilen ein. So blieb es auch hier nur bei einer kurzen Rast.
Eigentlich sollte es von hier aus wieder zurück zur Straße gehen, da keine der vielen Karten einen direkten Weg nach Marceddi verzeichnete. Aber genau diesen schien es zu geben, denn während wir uns am Wegesrand mit einer Banane stärkten verschwanden mehrere Autos, darunter auch ein Campingbus, in diese Richtung. Wir taten ihnen gleich und erreichten kurze Zeit später auf einem ausgefahrenen Weg das Fischerdorf.
In mehreren langen Reihen steht hier eine kleine Hütte neben der anderen. Die Straßen dazwischen sind im Verhältnis zu den Hütten extrem breit. In vielem erinnerte uns der Ort an San Salvatore. Nur ist die hier Kirche dieses Ortes nicht so berühmt und das Fest das hier gefeiert wurde nicht ganz so groß. Der Rest des Festschmucks baumelte noch über dem Dorfplatz. Dafür wirkte der Ort nicht ganz so ausgestorben. Vor einer offenen Tür wurden gerade ein paar frisch gefangene Fische über einem offenen Grillfeuer zubereitet, die einen verlockenden Duft verströmten. Von der asphaltierten Hauptstraße aus wäre uns das alles entgangen.Über eine schmale, mehrere hundert Meter lange Brücke erreichten wir Sant Antonia di Santadi. Die Brücke ist so schmal, dass sich keine Autos auf ihr begegnen können. Ausweichstellen oder eine Ampel gibt es nicht. Wer keinen Gegenverkehr sieht, fährt los, ansonsten wird gewartet. Bei dem geringen Verkehrsaufkommen scheint es ganz gut zu funktionieren. Allerdings ist die Brücke auch offizell für Fahrzeuge aller Art gesperrt.
Nun mussten wir nur noch über ein paar Hügel nach Torre dei Corsari. In Gedanken sahen wir uns schon in kürze im Mittelmeer baden. Es ging mehrmals steil aber nie sehr lang bergauf und wieder bergab. Recht groß war unsere Überraschung, als wir fast auf dem höchsten Punkt angekommen, den Ortseingang vor uns hatten. Nach der Beschreibung sollte unser Quartier fast am Meer liegen, mit einem schönen, gut zu Fuß erreichbaren Strand. Und nun standen wir mehr als siebzig Meter über dem Meeresspiegel.
Da fast die gesamte Strecke von Oristano nach Torre dei Corsari durch eine ausgedehnte Ebene führte, waren wir recht zügig unterwegs gewesen. So hatten wir uns unterwegs entschieden, ohne größere Pause bis zu unserem Tagesziel zu fahren, das wir noch vor der größten Mittagshitze erreichten. Nach dem Einchecken wollten wir dann am Strand liegen und Baden gehen. Nur leider hatten wir diese Rechnung ohne den Wirt gemacht. Der Check-In für das gemietete Ferienhaus ist nur am Nachmittag ab vier Uhr möglich. Selber schuld, wenn man am Abend zuvor nicht das Kleingedruckte in der Hotelreservierung liest.
Nun sitzen wir hier in einer der wenigen offenen Bars und vertreiben uns die Zeit. Die Mittagstemperaturen hatten wieder ihren Höhepunkt erreicht und die zuvor gedrehte Runde um das erst vor wenigen Jahren erbaute Zentrum der Ferienhaussiedlung Torre dei Corsari hatte uns davon überzeugt, das es jetzt besser sei an einem schattigen Platz zu verweilen. Unweit des Ortszentrums steht einer der vielen Wehrtürme aus der Zeit der Spanier. Er ist aber nicht der Namensgeber des Ortes. Nicht nur der Torre di Flumentorgiu , sondern der ganze Ort liegt etwa 50 Meter über dem Meer. Von hier fallen die Felsen nach Norden und Westen steil ab und man hat einen weiten Ausblick über den breiten Sandstrand und die ausgedehnten Dünen, die bis Pisits reichen. In mehreren steilen Serpentinen führt die Straße bis zu einem Parkplatz am Strand. Unweit davon warten zwei Strandbars auf ihre Gäste. Dichter am Wasser stehen mehrere Reihen Sonnenschirme und Strandliegen. Mal sehen ob wir von unserem Quartier aus noch einen anderen Weg zum Meer finden werden.
Peter Schaefer 2010-10-21