Mi. 17.9. Lago di Gusana - Oliena

48,6km, 1100Hm

Ein sehr anstrengender, aber auch ein sehr schöner Tag, neigt sich dem Ende zu. Von der Terrasse vor unserem Zimmer bietet sich ein phantastischer Ausblick. Tief unten im Tal liegt Oliena, auf der anderen Seite sieht man die Lichter von Nuoro. Unser Hotel liegt am Hang des Monte Corrasi, des höchsten Berges der Supramonte auf über siebenhundert Metern Höhe inmitten eines jahrhundertealten Steineichenwaldes. Es ist das größte zusammenhängende Gebiet Sardiniens, das von Steineichen bewachsen ist. Den wunderschönen Ausblick mussten wir uns zuvor aber schwer erarbeiten. Eine extrem steile, kurvenreiche Bergstraße führt von Oliena im Tal nach hier oben. Weit über eine Stunde hat es gedauert, bis wir, meist weniger als Schrittgeschwindigkeit fahrend und von etliche Verschnaufpausen unterbrochen, vor der Treppe zum Hoteleingang standen.

Bild 1.84: Abendstimmung am Monte Corrasi
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Es verdankt übrigens seinen Namen nicht einem Berggipfel, sondern der Lokalität Monte Maccione, wie dieses Gebiet oberhalb von Oliena genannt wird. In der Nähe des Hotelparkplatzes haben mehrerer Wanderwege in den Supramonte ihren Ausgangspunkt. Hier hätten wir einen Tag zum Wandern einplanen sollen. So konnten wir nur einem kurzen Abendspaziergang in die allernächste Umgebung unternehmen. Einer der verschlungene Spazierwege am Hang führte uns zu einem kleinen von einer Quelle gespeisten Wasserfall. Blieb man zwischen den großen Bäumen stehen, war nichts weiter zu hören außer das Gezwitscher der Vögel. Die untergehende Sonne mahnte uns schon bald zur Umkehr.

Zwei Stunden nach unserer Abfahrt am morgen hatten wir Fonni, das höchst gelegene Dorf Sardiniens erreicht. Es liegt, nach offizieller Angabe genau 1000 Meter über dem Meer. Das Zentrum ist geprägt von traditioneller Architektur. Die Häuser sind aus Granitblöcken errichtete. Den Mittelpunkt des Ortes bildet das Santuario della Madonna dei Martiri, eine barocke Klosteranlage der Franziskaner aus dem 17./18. Jahrhundert. Das kleine Café des Marguerites in seiner Nähe bot die willkommene Gelegenheit zu einer ersten Pause mit einem hervorragenden Espresso. Die Hausfassade auf der gegenüberliegenden Straßenseite ist mit einem sehr realistischen Darstellung der alljährlich in der Woche nach Pfingsten abgehaltenen Prozession

Bild 1.85: Wandmalereien in Fonni
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,,Sagra della Madonna dei Martiri`` geschmückt. Mit diesem Fest wird traditionell mit Umzügen und Tänzen die Rückkehr der Hirten gefeiert. Den ganzen Winter waren sie mit ihren Herden auf den Weiden der tiefer gelegenen Ebene des Campidano im Westen von Fonni. An anderen Stellen im Ort sind die verschiedensten Szenen aus dem Alltag der Bauern gestaltet. Manche so detailliert, das man erst beim Näherkommen und genauerem Hinsehen merkt, das es nur ein Gemälde auf einer kahlen fensterlosen Wand ist. Auf diesen Bildern sind auch die schönen Trachten der Frauen, mit ihren leuchtend roten, aufwendig plissierten Röcke und Schürzen zusehen, für die Fonni berühmt ist, und die heute fast nur noch zu den Festumzügen getragen werden.

Aber nicht nur an den Hauswänden von Fonni, sondern schon zuvor, im Café des Marguerites gab es bemerkenswert gestaltete Details zu entdecken. Im Gastraum zeigte eine alte Uhr die aktuelle Zeit an und auch die Türen zu den stillen Örtchen waren entsprechend gestaltete.

Bild 1.86: Kleinkunst im Café des Marguerites
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Nach der kurzen Pause besichtigten wir noch das prachtvoll geschmückte Innere der Kirche San Francesco und die umliegenden Gebäude der Klosteranlage. Beim Verlassen des Ortes sind uns die vielen Neubauten aufgefallen, die rund um dem alten Ortskern entstanden sind. Als wir vorhin in den Ort hineinfuhren kamen wir an mehreren neuen oder noch in Bau befindlichen großen Häusern vorbei. Wie ausgedehnt dieser Neubaugürtel ist, sahen wir erst beim Zurückblicken vom nächsten Hügel. Er ist eine Folge der Zunahme des Tourismus in den letzten Jahren. Immer mehr Wanderer zieht es im Frühjahr und im Herbst in die beeindruckende Bergwelt im Zentrum Sardiniens. Aber auch der winterliche Skizirkus scheint hier langsam anzukommen. Ganz in der Nähe von Fonni liegt das Skigebiet Monte Spada. Hier befindet sich der einzige Skilift auf Sardinien.

Auf kleinen fast unbefahrenen Straßen, vorbei am Lago Govossai, einem weiteren, jetzt fast halb leeren Stausee, steuerten wir den nächsten Ort an. In den lichten Steineichenwäldern, die hier auf den Hochebenen der Barbagia Ollolai wachsen, weideten Schweine und Kühe. Die meisten hatten sich jetzt zur Mittagszeit in den Schatten der Bäume zurückgezogen und waren daher kaum auszumachen, aber hier und da liefen sie auch direkt am Straßenrand, vollkommen unbeeindruckt von unserem Erscheinen. Der Namen dieser extrem dünn besiedelten Region geht auf die Bezeichnung aus der Zeit der Römer, auf das ,,Land der Barbaren``, zurück. Noch heute leben die Menschen hier überwiegend als Hirten von der Viehzucht.

Bild 1.87: In der Barbagia
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Ganz im Gegensatz zu Fonni sind die Wandmalereien in Orgosolo, dem einst berüchtigten Banditendorf in der Barbagia, sehr sozialkritisch und nicht religiös motiviert. Eines der ersten Bilder, an denen wir vorbeikamen, zeigte einen Sarden, umschlungen von einer Riesenschlange auf deren Schuppen in großen Lettern ,,Capitalismo`` geschrieben stand. Die Murales genannten Wandgemälde entstanden im Jahr 1968. Die anarchistische Mailänder Gruppe Dioniso hatte sie gezeichnet. Ihre Arbeit wurde 1975 von dem Zeichenlehrer Francesco Del Casino fortgesetzt, der aus Siena nach Orgosolo kam. Aus Anlass des 30. Jahrestag des Partisanenkampfes gegen den Faschismus malte er mit seinen Schülern, Bilder an die Wänden der Häuser. Sie drückten zuerst den Protest gegen einen geplanten NATO-Truppenübungsplatz auf dem Pratobello in der Nähe von Orgosolo aus. Die späteren Bildnisse kommentieren die verschiedensten Ereignisse der italienischen und der Weltpolitik der letzten Jahrzehnte oder beschäftigen sich mit dem Leben auf Sardinien. In ihrem Stil erinnern sie an Bilder von Picasso. Die meisten der Murales sind noch gut erhalten, nur dort wo die Häuser nicht mehr bewohnt scheinen, zeigen sich deutliche Spuren von Wind und Wetter.

Bild 1.88: Murales ,,Siamo tutti clandestini`` (Wir sind alle heimatlos)
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Unser Weg durch den Ort führte uns an vielen der Wandbilder vorbei, es sollen insgesamt 120 sein. Bei der hochstehenden Sonne war es in den engen Gassen, nicht einfach, vernünftig zu fotografieren. Auf die interessantesten fiel ein hartes Wechselspiel zwischen Licht und Schatten, so dass wir nur die Erinnerung mitnehmen konnten.

Auf der Straße zwischen Orgosolo und Oliena sind uns nur zwei Forstfahrzeuge begegnet. Beide waren ausgerüstet mit einem kleinen Wassertank und einfachen Wasserspritzen an Bord, wohl eine Art patroulierender Feuerwache. Nur scheint hier nicht der Müll am Straßenrand der Grund möglicher Brände zu sein. Dort wo faktisch keine Autos verkehren, liegt auch kein Müll am Straßenrand, sieht man von den wenigen Autowracks ab, deren Fahrer wohl die eine oder andere Serpentinenkurve unterschätzt hatten. Schon kurz hinter Fonni, am Lago Govossai war uns aufgefallen, wie beliebt hier Verkehrs- und andere Hinweisschilder als Zielscheiben sind. In den letzten Tagen hatten wir schon gelegentlich einzelne Einschusslöcher gesehen, aber hier waren etliche Verkehrsschilder am Straßenrand überhaupt nicht mehr als solche zu erkennen. Von dem Ruf, den dieser Landstrich in der Vergangenheit hatte, scheint noch einiges lebendig zu sein und der ließ

Bild 1.89: Blick auf die Bergkette der Supramonte
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bei uns ein etwas mulmiges Gefühl in der Magengegend entstehen. Als Entschädigung dafür bot sich uns auf der ganzen Strecke von Orgosolo bis Oliena eine einzigartige Landschaft entlang der Hänge der Supramonte und der beiden höchsten Erhebungen, den Monte Corrasi und den Punta Sos Nidos.

Peter Schaefer 2010-10-21